Saarbrücker Premiere der Bühnen-Adaption von Knut Hamsuns Roman „Hunger“ überzeugt

Von SZ-Redakteur Johannes Kloth, 13.01.2014


Die Berlinerin Alexandra Holtsch hat den düsteren Roman des Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun (1859-1952) auf die Bühne gebracht. Das Drei-Personen-Stück entfaltet in der Sparte 4 eine ähnliche Sogwirkung wie seine Vorlage.

Wann wurde im Saarländischen Staatstheater das letzte Mal so herzhaft gebrüllt, geflucht, gewürgt, gekotzt und sich auf dem Boden gewälzt? Wann das letzte Mal so gezielt die Grenze des Zumutbaren ausgelotet wie bei dieser Bühnenadaption von Knut Hamsuns Fin-de-Siècle-Novelle „Hunger“, in der uns Organisches in Makroaufnahme auf der Leinwand entgegen flackert und kübelweise Erbrochenes durch die Luft fliegt? Wobei all das nicht billiger Provokation dient, Alexandra Holtsch bei ihrer Sparte-4-Inszenierung nie die grotesk-komischen und verzweifelt-stillen Momente der Vorlage aus den Augen verliert. Wie konsequent die Berlinerin jedoch aller allegorischen Versuchung widersteht (keine Psychologisierung, keine subtile Sozialkritik), stattdessen ganz im Hamsun’schen Sinne die physisch-psychische Dimension des Hungerns samt himmelschreiender Leibesschmerzen und Halluzinationen bis hin zum Delir in den Fokus stellt – das ist ebenso beklemmend wie inszenatorisch überzeugend.


Knut Hamsun, grandioser Pionier der literarischen Moderne und glühender Hitler-Verehrer bis nach dessen Tod, war als Person ebenso ambivalent wie seine Figuren. Der Norweger kannte Hunger nur zu gut aus eigener Erfahrung. In seinem Debütroman von 1890 beschreibt er den Verfall eines Schriftstellers in Kristiania, wie Oslo damals hieß. Obdachlos geworden streift der durch die Stadt. Die Versuche, seinen Zustand zu verbergen, verschlimmern die Situation nur noch, da er keine Hilfe annimmt. Das Buch erzählt vom Treiben durch die Straßen und den Begegnungen mit Menschen in Form eines zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Größenwahn und Scham schwankenden inneren Monologs. Dieser Leidende ist uns nah und fremd, wir verstehen ihn irgendwie, und doch erscheint sein Verhalten der Umwelt gegenüber unplausibel.


Mit einigen geradezu genial einfachen Tricks gelingt es Holtsch, die Sogwirkung, die das Buch entfaltet, auf die Bühne zu übertragen. Da teilen sich mit Roman Konieczny, Yevgenia Korolov und Saskia Petzold drei Akteure die Rolle des Erzählers, wobei Korolov und Petzold – in ausladende 19.-Jahrhundert-Korsagenkleidern gesteckt – zugleich Polizisten, Kaufleute, Vermieter oder junge Verführerin verkörpern. Da verschwimmen Ort und Zeit, die Schauplätze des Buchs spielen keine Rolle mehr, das Trio lässt collagenartig Sätze, Passagen, Szenen übereinander gleiten. Holtsch zertrümmert und setzt neu zusammen – mit spektakulärem Effekt: Wenn sich Petzold vor Hunger krümmt, Korolov zugleich in wahnhaftes Gelächter ausbricht und – entnervt vom eigenen Verhalten – die Hand an die Stirn schlägt, während Konieczny wiederum mit wirrem Haar und in fleckigem Anzug die Haltung zu wahren versucht, wandern unsere Blicke immer schneller hin und her. Es ist ein schwindelerregender, ebenso beängstigender wie düster-komischer Blick in das paradoxe Geflecht einer wirren Psyche. Sätze wiederholen sich, wieder und wieder, werden von anderen abgelöst, gemurmelt, geschrien, geflüstert, die „Mysterien der Nerven in einem ausgehungerten Körper“, um die es Hamsun ging, die „heimlichsten Bewegungen des Gemüts“ – sie werden hier fast schmerzhaft plastisch.

Was auch ein großes Verdienst der Schauspieler ist: Mit welcher Bühnenpräsenz die drei, allen voran Konieczny, diesen 90-Minuten-Trip zwischen Wahn und düsterem Witz meistern, beeindruckt auf ganzer Linie. Zu alldem hat Holtsch einen Soundteppich gestrickt, der im Hintergrund bedrohlich wabert, blubbert und immer wieder in schrillen Free-Jazz-Ausbrüchen kulminiert. Einem letzten Aufbäumen folgt ein letztes Zusammensinken. Statt Sätze schwirren nur noch einzelne Wörter durch den Raum: Hunger, kalt, müde. Die Surrealistin Meret Oppenheim wird zitiert: „Falle Du doch in Dein Loch!“ Gibt es wirklich keine Hoffnung mehr?


Hamsuns Roman endet offen, es bleibt im Unklaren, ob er seinem Hungernden eine Perspektive bietet. Holtsch dagegen lässt keine Zweifel aufkommen. Auch in ihrem Schluss bleibt die Inszenierung beachtlich konsequent.